Angle-Klasse II (2) Anomalie-(mandibuläre Retrogenie)

Angle-Klasse II- Kieferorthopädie-Zahnmedizin

Defintion

Klasse II: mesiobukkaler Höcker des Oberkiefer-6ers liegt mesial der zentralen Fissur des Unterkiefer-6ers.

Einteilung

A)Klasse II/1

  • skelettal bedingt: zu weit ventral liegender Oberkiefer (Prognathie), zu weit dorsal liegender Unterkiefer (Retrognathie) oder Kombination der beiden.
  • dentoalveolär bedingt: maxilläre Protrusion, mandibuläre Retrusion oder Kombination der beiden → oft nach Milchzähneverlust
  • Überwiegen dentaler Abweichungen: eher aufgrund exogener Faktoren: Habits (Lippensaugen, Lutschen), Mundatmung, Wachstumsstörungen des Unterkiefer durch Gelenkfrakturen/Ankylose im Kindesalter
  • Überwiegen skelettaler Abweichungen: eher endogene Faktoren (genetisch)
  • Gefahr: schnelle Zahntraumata bei Sturz

A.1)Symptome

  • intraoral
    • vergrößerte sagittale Frontzahnstufe
    • Rücklage des Unterkiefers mit Vorverlagerung oder korrekter sagittaler Position des Oberkiefers (FRS)
    • oberer Schmalkiefer, hoher Gaumen
    • lückige oder engstehende Protrusion der Oberkieferfrontzähne
    • oft Tiefbiss
    • umgekehrte Spee-Kurve im Oberkiefer, ausgeprägte Spee-Kurve im Unterkiefer
    • durch starkes Zungenpressen kann die sagittale Stufe kaschiert werden
  • extraoral
    • inkompetenter Lippenschluss, ggf. Lippensaugen
    • verkürztes Untergesicht
    • konvexes Gesichtsprofil, fliehendes Profil
    • dümmliches Aussehen
    • geringer Tonus des M. orbicularis oris
  • Röntigen-kephalometrisch (allgemein Klasse II)
    • SNA: vergrößert bei Prognathie
    • SNB: verkleinert bei Retrognathie
    • SNPog: verkleinert bei Retrognathie, keine Veränderung bei dentalem Rückbiss
    • ANB-Winkel: vergrößert bei Retrognathie, Prognathie, dentalem Rückbiss
    • Winkel OK1: verkleinert = Protrusion der OK-Front
    • Winkel UK1: vergrößert = Retrusion der UK-Front
    • NSBa vergrößert
    • Messstrecke Pog-NB: vergrößert bei dentalem Rückbiss

A.2)Behandlung

  • Indikationen
    • eingeschränkte Kau- & Abbeißfunktion
    • Ästhetik
    • Risiko parodontaler Schädigung (Weichteileinbisse, zB. am Gaumen)
    • Gefahr der Wachstumshemmung
  • Frühbehandlung
    • im frühen Wechselgebiss
    • nur bei stark protrudierten Oberkieferfrontzähne und starker sagittaler Stufe 
    • Beheben der Habits (Antilutschkarte, Mundvorhofplatte)
  • normale Behandlungspase
    • spätes Wechselgebiss (10 Lebensjahr)
    • größtes Wachstumspotenzial
    • Beseitigung der Unterkieferrücklage → meist muss vorher Oberkiefer transversal erweitert werden.
    • Beseitigung des Tiefbisses und Protrusion der Oberkieferfrontzähne
    • Beseitigung des verkürzten Untergesichts (Mikrognathie) durch Wachstum der Mandibula 
  • Geräte
    • FKO-Geräte, Vorschubdoppelplatten & Kombi beider Geräte mit Headgear
    • Bisssenkung (bei offenem Biss) oder Bisshebung (bei tiefem Biss) mit FKO-Geräten
  • nach Wachstumsabschluss
    • dentale Kompensation
      • Ziel: Retrudieren der OK-Front, skelettaler Fehler wird belassen, nur bei harmonischen Profilverhältnissen
      • Extraktionstherapie: Extraktion der OK-4er, dann Retrusion der Front (festsitzende Geräte), senkt Biss
      • Distalisation der Oberkieferfrontzähne mittels Headgear, hebt Biss
    • chirurgische Therapie
      • bei starken skelettalen Abweichungen, die das Profil beeinflussen
      • Unterkiefervorverlagerung (Oberkieferrückverlagerung wegen Gefäß- & Nervenversorung nicht möglich)

 

B)Klasse II/2

Überwiegend genetisch bedingt (endogen), exogene Faktoren: erhöhter Tonus des M. orbicularis oris, Lippendruck, Zwangsführung.

B.1)Symptome

  • intraoral
    • Rücklage des Unterkiefers, evtl. Vorverlagerung des Oberkiefers
    • Palatinalkippung der extrudiertern (verlängerten) Oberkieferfrontzähne (Retrusion)
    • Lingualkippung der extrudierten Unterkieferfrontzähne
    • Tiefbiss bei extremen horizontalen Wachstum
    • deckbissartige Schneidezahnstellung der Oberkiefer-1er (überdecken die Unterkiefer-1er)
    • kleine sagittale Stufe
  • extraoral
    • kurzes Untergesicht mit kompetenten Lippenschluss
    • konvexes Großnasenprofil, prominentes Kinn
    • negative Lippenstufe
    • oft Nasenatmung
  • Röntigen-kephalometrisch
    • vorwiegend horizontale Wachstumsrichtung
    • Unterkiefer-Alveolarfortsatz meist retrognath / verkleinerter SNB-Winkel
    • Interinzisalwinkel immer vergrößert

B.2)Behandlung

  • Frühbehandlungen im Milchgebiss sind kontraindiziert, da Keimanlage der Oberkieferfrontzähne nicht beeinflussbar ist und man die Keime schädigen könnte → Behandlung erst ab dem 10 Lebensjahr.
  • unterschied zur Therapie der Klasse II/1: Frontzähne sollen protrudiert werden (Protrusionsfedern an aktiver Platte)
  • Geräte
    • herausnehmbare Geräte wie Vorschubdoppelplatten, Aktivatoren und Modifikationen

Geräte zur Behandlung der Klasse II

  1. transversale OK-Erweiterung
  • OberKieferdehnplatte mit Schraube
  • Gaumennahterweitert
  1. Mundvorhofplatte
  • im Milchgebiss und frühem Wechselgebiss
  • zur Abgewöhnung von Habits & Ventralbeeinflussung des Unterkiefer bei stark ausgeprägter Klasse II/1, um das Kunststoffschild im Vestibulum zu halten, muss Patient Lippen schließen, was nur durch Unterkiefervorverlagerung möglich ist.
  1. Vorschubdoppelplatten
  1. Intermaxilläre-Klasse-II-Gummizüge 
  1. Herbst-Scharnier
  1. Jasper Jumper
  • Bisslagenkorrektur im Wachstum
  • ähnlich des Herbstscharniers, nur flexibler, da die anteriore Kraft auf UK über stabile Federn ausgeübt wird
  • angenehmer für Patienten
  1. Headgear
  • bei Vorverlagerung des Oberkiefers → verlangsamt das Nach-vorne-wachsen des Oberkiefer und ermöglicht, dass der Unterkiefer in seinem Wachstum den Oberkiefer einholt
  • Cave: bei vertikalem Wachstum kann es zur Bissöffnung kommen
  1. Bionator (Balters) 
  1. Aktivator
  1. Göttinger Proplatte
  1. Teuscher-Aktivator 
  1. Funktionsregler nach Fränkel
  • entwicklungshemmender Einfluss der Wangen- & Lippenmuskulatur → durch Wangenschilde & Lippenpelotten vom Kiefer abgehalten (gleichzeitig Wachstumsreiz durch Zug am Periost)
  • Zungendruck bewirkt transversale Erweiterung.

Rezidivgefahr

  • Rückumstellung in Richtung der früheren Dysgnathie
  • hohe Rezidivgefahr bei
    • vertikalem Wachstumstyp (horizontaler Wachstumstyp ist günstiger)
    • ungesicherter muskulär geführter Vorverlagerung des UK
    • fortbestehen des Habits
    • dentalen Korrekturen des Distalbisses
  • durch stabile Verschlüsselung der Okklusion kann Rezidiv verhindert werden
  • Klasse II/2 hat größere Rezidivgefahr als Klasse II/1